Ich habe etwas über mich selbst gelernt
Ein Beitrag über Begegnungen zwischen deutschen und israelischen Jugendlichen.
Bettina Dettendorfer in: blz 10/2005. Die Mitgliederzeitschrift der GEW Berlin.
Kühl ist es an diesem Sonntag im Juli. Ein kräftiger Wind ist zu spüren, er wirbelt Staub auf an der "Station Z". Zehn Jugendliche, in schwarz und weiß gekleidet, stehen vor einer steinernen Mauer mit der Aufschrift "Den Opfern des Konzentrationslagers Sachsenhausen", um sie herum zwanzig weitere junge Menschen. Auf hebräisch und deutsch lesen sie ein Gedicht vor, das Dietrich Bonhoeffer Ende der dreißiger Jahren geschrieben hat. Still ist es, vereinzelt bleiben andere Besucher der Gedenkstätte angesichts dieser unerwarteten Szene stehen und lauschen den Worten des Gedichts. Das hebräische Lied, das die 15-jährige Bar aus Israel anschließend anstimmt, mahnt zu einem "Niemals vergessen".
Die Jugendlichen, die diese Gedenkzeremonie in dem ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen in Oranienburg abhalten, sind SchülerInnen aus Berlin und Israel, die an einer deutschisraelischen Schülerbegegnung teilnehmen, die von der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein und ihrem israelischen Partner Dialog organisiert wird.
Das Interesse bei den SchülerInnen der Highschools in Hadera und Julis in Israel und der Anna-Seghers-Oberschule in Berlin-Köpenick ist groß. Innerhalb eines Jahres fanden sich 50 Jugendliche aus beiden Ländern, die sich an vier Begegnungen beteiligten.
Für je zehn Tage geht es für die Jugendlichen in Berlin und einige Zeit später in Israel um Fragen zur deutschisraelischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Hierbei suchen die Jugendlichen nicht nur nach eigener und gemeinsamer Geschichte. Auch aktuelle Themen rücken ins Blickfeld: Was sind konstruktive Wege zur Lösung und wie gestaltet sich ein Zusammenleben von verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Gruppierungen?
Für die Jugendlichen stehen jedoch auch das gegenseitige Kennenlernen und das Lernen über die Lebensbedingungen der "Anderen" im Vordergrund. Mit einer großen Neugier am jeweils anderen Land und dem "Fremden" fliegen die israelischen Jugendlichen nach Deutschland und die deutschen Jugendlichen nach Israel, verbringen jeweils einige Nächte in Gastfamilien und erhalten Antworten auf ihre Fragen zum Land.
Die Begegnung in Deutschland wird in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein in Werftpfuhl, 30 km nordöstlich von Berlin durchgeführt. Mit Workshoparbeit, Stadtrundgängen und Besichtigungen in Berlin, Exkursionen zu Gedenkstätten sowie einer Verarbeitung der Inhalte in einem kleinen Produkt (Videofilm, Zeitung, digitale Bildershow,...) wird das Projektthema umgesetzt. Gleichzeitig leben die deutschen und israelischen Jugendlichen gemeinsam in der Bildungsstätte: Tagsüber sind sie in deutsch-israelisch gemischten Kleingruppen mit dem Thema beschäftigt, in den Pausen und abends gestalten sie ihre Freizeit gemeinsam und lernen sich so intensiv kennen. Ein kurzer Aufenthalt in den Gastfamilien ermöglicht den israelischen Jugendlichen einen Blick in die deutsche Gesellschaft.
Die Fortsetzung der Begegnung in Israel ist eine Mischung aus einem Lernen vor Ort und einem Kennenlernen des Landes. Bei Besuchen von Städten wie Haifa, Tel Aviv und Jerusalem, Gebieten wie dem See Genezareth oder Gedenkstätten, wie z.B. der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, werden vielfältige Fragestellungen diskutiert und ein Einblick in die israelische Gesellschaft und derzeitige Entwicklungen gewonnen. Ausflüge mit den Gastfamilien oder das Miterleben von Sabbatfeiern in jüdischen Familien sind dabei für die deutschen Jugendlichen besondere Erlebnisse.
Doch was denken die Jugendlichen aus Deutschland und Israel selbst über solche Begegnungen, was nehmen sie aus den Begegnungen mit? Die Antworten reichen von Wissen über die gemeinsame Geschichte ("Ich habe viel über die gemeinsame Vergangenheit von Juden und Deutschen und über die deutsche Seite des Holocaust gelernt"), über Wissen um andere Kulturen und Lebensweisen ("Etwas über ihre Kultur, das ich ohne sie nicht gelernt hätte") bis hin zu Grundvoraussetzungen unseres Zusammenlebens ("...dass Menschen immer gleichberechtigt sein sollen") und Erkenntnissen über sich selbst ("...ich habe etwas über mich selbst gelernt").
Auch der Besuch der Gedenkstätte Sachsenhausen und die Durchführung der Gedenkzeremonie ist den Jugendlichen wichtig. Das Argument, günstig in ein fremdes Land zu kommen, um dort Urlaub zu machen, wurde übrigens nicht genannt.