"Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten"

Foto: Stephanie Hofschlager, www.pixelio.de
21.11.2007 | 

Ein Projekt der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein.

Bettina Dettendorfer / Thomas Gill / Christine Reich / Candida Splett in: Außerschulische Bildung 3/2007, Einwanderung mit politischer Bildung begleiten.

Was kann außerschulische Jugendbildung zur Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien beitragen? Dieser Frage widmet sich ein Projekt, dessen Konzept in diesem Beitrag dargestellt wird. Auch über erste Erfahrungen bei seiner Realisierung kann schon berichtet werden. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, bei der Identitätsfindung und -wahrnehmung der Jugendlichen anzusetzen und ihr Lebensumfeld einzubeziehen, damit Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten konkret erfahrbar werden.

Deutschland war und ist ein Einwanderungsland. Auch die Region Berlin-Brandenburg war schon immer auf Zuwanderung angewiesen, ist ein Zuzugsgebiet und wird dies in den nächsten Jahren auch verstärkt sein. Da Deutschland sich erst in der jüngeren Vergangenheit als Einwanderungsland zu verstehen beginnt, setzen sich nur langsam Ansätze zur Gestaltung unserer Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft durch.

Integrationsprozesse sind in unserer pluralen Gesellschaft unabdingbar, wobei Integration nicht als Anpassung oder gar Assimilation der Zuwanderinnen und Zuwanderer verstanden werden darf. Integration ist ein gegenseitiger, interaktiver Prozess zwischen der Mehrheitsgesellschaft und ethnischen Minderheiten. Sie bedeutet nicht Selbstaufgabe der eigenen Identität, sondern eine Erweiterung der Kompetenzen und die Herausbildung eines dynamischen Verständnisses von Gesellschaft und Kultur bei allen hier Lebenden. Die Förderung von Integrationsprozessen durch zielgruppengerechte Angebote ist dabei unerlässlich.

Die Integration erwachsener Zuwanderinnen und Zuwanderer wird seit Jahren mit unterschiedlichen Angeboten unterstützt. Sie reichen von der Orientierungsberatung oder Information über den Zugang zum Arbeitsmarkt bis hin zu Sprachkursen. Neu im Bereich der Erwachsenenbildung sind Kurse, die die Sprachschulung mit politischer Bildung verbinden. Für Jugendliche gibt es nahezu keine Integrationsangebote, die über den Rahmen von Schule und Jugend(sozial)arbeit hinausgehen. An diesem Missstand setzt das Projekt „Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten“ an. Es hat den Anspruch, der Frage nachzugehen, welchen Beitrag die außerschulische politische Jugendbildung zur Integration leisten kann.

Zielgruppen

Der Blick auf Jugendliche mit Migrationshintergrund in der öffentlichen Diskussion ist differenzierter geworden, seit sich abzeichnet, dass sie in einigen westdeutschen Großstädten künftig die Mehrheit der Jugendlichen stellen werden. Doch noch immer verstellt das Bild von „dem Migrantenjugendlichen“ den Blick auf die vielgestaltigen Lebensrealitäten der unterschiedlichen Zuwanderergruppen. Aus diesem Grund haben wir uns im Vorfeld des Projektes dafür entschieden, uns gezielt auf drei Gruppen von Migrantinnen und Migranten zu konzentrieren und dabei sowohl Jugendliche mit als auch solche ohne Migrationshintergrund aus deren Umfeld anzusprechen:

  • Jugendliche türkischer Herkunft,
  • Aussiedler/-innen aus der ehemaligen Sowjetunion,
  • jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer.

Wir kooperieren dabei mit dem Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg, der Quartiersagentur Marzahn Nordwest und der Jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim, was uns einen guten Kontakt zu den Zielgruppen ermöglicht.

Vor allem für die Zielgruppe der Jugendlichen mit türkischer Herkunft gilt, dass diese zwar in Deutschland geboren sind, mit deutschen Gleichaltrigen zusammen leben, mit ihnen die gleiche Schule besuchen und ihnen täglich begegnen, sich aber oftmals zurückziehen und unter sich bleiben. Sie beziehen sich auf ihre Gruppenidentität und offenbaren oftmals verklärte Vorstellungen von dem ursprünglichen Gemeinwesen ihrer familiären Herkunft, das sie zum Teil nur aus den Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern kennen. Bei Jugendlichen der dritten Einwanderergeneration ist festzustellen, dass sie die Lektion ihrer Eltern gelernt haben, die sich integrieren wollten, jedoch zurückgewiesen wurden. Die Jugendlichen heute haben sich in Ghettos eingerichtet und verweigern sich den Integrationsbemühungen, nicht selten darin bestätigt aufgrund erlebter Benachteiligungen als „Ausländerin/Ausländer“. Dieses als „innere Migration“ bezeichnete Phänomen führt nicht selten zum Rückzug von der sozialen Außenwelt und erhöht das Konfliktpotenzial in der Interaktion mit anderen. Zusätzlich verstärkt die Migrationssituation die Nachteile geringer schulischer und beruflicher Bildung, so dass nicht wenige jugendliche Zuwanderinnen und Zuwanderer ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bleiben.

Bei Aussiedlern und Aussiedlerinnen und jüdischen Zuwanderern und Zuwanderinnen ist die unmittelbare Migrationserfahrung noch deutlich präsent und prägend. Sie ist häufig mit einem deutlichen Statusverlust und sozialem Abstieg verbunden. Berufliche Abschlüsse, die die Eltern in den Herkunftsländern erworben haben, sind auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht relevant. Häufig fanden sich die Familien in die Großsiedlungen am Stadtrand in quasi russisch-sprachige „Ghettos“ abgeschoben. Auch dies prägt die Lebenswelt der Jugendlichen nachhaltig.

Das Projekt soll den verschiedenen Gruppen (der Jugendlichen mit Migrationshintergrund und der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund aus deren Umfeld) im ersten Teil spezifische Angebote unterbreiten und verschiedenste Begegnungen in der Bildungsstätte ermöglichen.

Im zweiten Teil des Modellprojektes, in dem es um die Initiierung und Gestaltung eines gesellschaftlichen Dialogs über das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft geht, werden weitere Gruppen wie die Eltern der beteiligten Jugendlichen, lokale Netzwerke und kommunale Akteure mit einbezogen.

Ziele

Die übergeordnete Zielstellung des Modellprojektes ist die Erforschung des möglichen Beitrags außerschulischer (politischer) Jugendbildung zur Verbesserung der Integration von Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien. Hierbei werden spezifische Instrumente und didaktische Konzepte entwickelt, die auch in andere Handlungsfelder übertragen werden können. Es wird ein Repertoire verschiedener Übungen, Methoden und Techniken geschaffen, mit dem politische Jugendbildung Integrationsbemühungen unterstützen und neue Integrationsmöglichkeiten entwickeln kann.

Unmittelbar wollen wir mit unserem Projekt zur Integration der jugendlichen Zuwanderinnen und Zuwanderer beitragen und ihnen neue Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen. Durch eine Vielzahl miteinander abgestimmter Angebote werden die Jugendlichen aus ihrer individuellen und sozialen Isolation herausgeführt, wir vermitteln ihnen Schlüsselqualifikationen und soziale Kompetenzen und stärken ihre Fähigkeit zu Partizipation und ihre Bereitschaft zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Durch den partiellen Einbezug ihrer Eltern, ihrer Mitschüler/-innen, lokaler Netzwerke und kommunaler Akteure können die Integrationsbemühungen aller der im Umfeld der Jugendlichen daran Beteiligten verstärkt, die öffentliche Kommunikation über Zuwanderung und Integration angeregt und die kulturelle Vielfalt im öffentlichen Bewusstsein verankert werden.

Umsetzung des Projekts

Die Durchführung des Projekts gliederte sich in mehrere Phasen. In einer ersten Phase wurden die Kontakte zu lokalen Netzwerken, den „Communities“, den Jugendfreizeiteinrichtungen, den Schulen und Kommunen hergestellt und gefestigt sowie das Konzept des Projektes weiterentwickelt. Für die prozessbegleitende Beratung wurde zu Projektbeginn ein Beirat eingerichtet, der Unterstützung in fachlichen Diskussionen, bei der internen Evaluation und der Absicherung des Transfers leistet. Im Projektbeirat sitzen Michael Kohlstruck (TU Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung), Doris Nahawandi (Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg), Anke Zwink (Antidiskriminierungsstelle der Integrationsbeauftragten des Landes Brandenburg) und Boris Brokmeier (Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten).

In einer zweiten Phase fanden und finden mit den bereits genannten Zielgruppen Wochenend-Workshops zu verschiedenen Themen statt. Dabei empfiehlt es sich manchmal, die Zielgruppen getrennt voneinander anzusprechen, da nur so eine ihren Belangen entsprechende Angebotsform entwickelt werden kann. Die Workshops haben im Sinne von Empowerment das Ziel, die Jugendlichen in ihren sozialen und kommunikativen Kompetenzen zu stärken, ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen, ihnen soziale und berufliche Orientierungskompetenz zu vermitteln sowie den Dialog zwischen den Generationen zu intensivieren. Aber es sollen auch „gruppenübergreifende“ Angebote erarbeitet werden, die einen Austausch über die Erfahrungen mit „Fremd sein“ in Deutschland ermöglichen und zur Entwicklung gemeinsamer Perspektiven beitragen. Mögliche Themenbausteine sind beispielsweise „Lebensplanung und Orientierung“, „Konfliktbewältigung“, „Teambildung“ und Seminare zur Berufsorientierung sowie Bewerbungstrainings.

„Durch die Auseinandersetzung mit konkreten Informationen zum gewählten Berufsfeld konnte auch der Blick auf Alternativen erweitert und eine Flexibilisierung der eigenen Berufs- und Zukunftsvorstellungen erreicht werden. Ein Teil der Jugendlichen war durch das Training kaum zu erreichen. Grund dürfte in erste Linie eine in hohem Maße desillusionierte Sicht auf die eigenen Perspektiven und ein grundlegendes Gefühl sein, von der Gesellschaft abgelehnt zu werden“ (Erfahrungen aus einem Seminar mit mehreren Schulklassen aus Berlin und Brandenburg mit ca. 25% Schüler/-innen türkischer, polnischer, russischer bzw. ukrainischer Herkunft).

Erweitert wird diese Phase durch so genannte Trainingsangebote, die von Montag bis Freitag mit den Schulklassen durchgeführt werden, in denen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind. Dadurch werden die interkulturelle Kompetenz und der gesellschaftliche Dialog innerhalb der Schulklassen gefördert und die Schüler/-innen lernen besser zu verstehen, wie die jeweils anderen so geworden sind, wie sie in Erscheinung treten. Damit hoffen wir, zum Abbau von Diskriminierung und Rassismus beizutragen und die Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit unter den Schüler/-innen zu verbessern. Die Schüler/-innen werden somit zu Multiplikator/-innen der interkulturellen Kompetenz in ihrer Schule. Denkbare Themen für diese „Begegnungen“ sind: „Normen und Werte – ein interreligiöser Dialog“; „Demokratie und Interessenvertretung“; „Diskriminierung und Ausgrenzung – eigene Erfahrung, gemeinsame Erfahrungen?“ sowie geschlechtsspezifische Themen wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit bestehenden Rollenbildern.

Zugleich wollen wir auch andere Formen der Begegnung realisieren, beispielsweise eine Schulklasse aus Berlin mit einem hohen Anteil türkischer Migrantenkinder und eine Schulklasse aus Bernau mit Kindern von jüdischen Kontingentflüchtlingen bei einem gemeinsamen Seminar zusammen bringen.

„Es zeigte sich bei diesem Workshop sehr deutlich, dass beim Thema Konfliktbewältigung auch interkulturelle Konflikte, Vorurteile und Missverständnisse im Zusammenleben eine große Rolle für die Teilnehmenden spielen. Für weitere Seminare zum Thema Konfliktbewältigung muss vor diesem Hintergrund die Verknüpfung zum Thema Kommunikation in Zusammenhang mit interkulturellen Konflikten stärker in den Mittelpunkt gestellt werden“ (Erfahrungen aus einem Seminar mit Jugendlichen der jüdischen Gemeinde Bernau, überwiegend sog. jüdische Kontingentflüchtlinge).

In dieser Phase findet auch ein erster Transfer der Ergebnisse aus der Modellregion in ein anderes Lernumfeld statt. Ein Wochenseminar mit Schülerinnen und Schülern wird im Herbst 2007 in der Jugendbildungsstätte Welper (Hattingen, NRW) durchgeführt. Die Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen treffen die Berliner Jugendlichen im Frühjahr 2008 dann ein zweites Mal in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein.

Den Abschluss des Projekts bildet die direkte Wahrnehmung und Mitgestaltung von Partizipationsmöglichkeiten durch die jugendlichen Zuwanderinnen und Zuwanderer und durch Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Je nach Zielgruppe und regionaler Besonderheit sollen Beteiligungsmöglichkeiten wie z. B. Zukunftswerkstätten, Runde Tische, Foren etc. geschaffen werden. Jugendliche, regionale Partner und kommunal Verantwortliche können hier Fragen von Integration diskutieren. Damit wird eine Öffentlichkeit für die Interessen, Bedürfnisse und Probleme der Jugendlichen mit Migrationshintergrund geschaffen. Im Vorfeld wird es nötig sein, die Jugendlichen in gezielten Trainings auf diese Beteiligungsmöglichkeiten vorzubereiten und mit ihnen Strategien zur Artikulation ihrer eigenen Interessen zu erarbeiten. Die Umsetzung dieser Phase erfolgt ab Sommer 2008.

Schlussfolgerungen nach dem ersten Projektjahr

Gleichzeitiger Weg

Die Erfahrungen zeigen, dass es sinnvoll ist, Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund in ihrem täglichen Umfeld (also z. B. in der Schule) gemeinsam anzusprechen und ihnen klassische Inhalte von interkultureller politischer Bildung zu vermitteln: darunter verstehen wir die Aufarbeitung von Vorurteilen und das Anerkennen von Unterschiedlichkeit. Wenn politische Bildung die Integration von jugendlichen Migrant/-innen unterstützen soll, ist auch die Entwicklung gemeinsamer Werte als Lebensgrundlage wichtig. Ziel ist ja die Förderung der Bereitschaft zu einer die eigene Identität nicht aufhebenden, sondern einbringenden Integration. Der Beitrag der politischen Bildung zur Integration heißt also durchaus auch: Gemeinsamkeiten entdecken und ein Wir-Bewusstsein entwickeln, das zu gemeinsamem Engagement bei der Gestaltung der Lebenswelt führt.

Neuer Weg: Politische Bildung von Anfang an

Obwohl im Sinne der ursprünglichen Projektidee Grundschüler/-innen der 5. und 6. Klassen nicht unmittelbar zur Zielgruppe des Projekts gehören, wurden Maßnahmen mit Jugendlichen in diesem Alter durchgeführt, wenn Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund in derselben Gruppe (z. B. Schulklasse) waren. Dabei ist die Zuordnung der 5. und 6. Klasse zur Grundschule noch eine Besonderheit in Berlin und Brandenburg, die es ermöglicht, alle Jugendlichen aus einem Wohnumfeld zu erreichen. Die selektive Aufteilung nach verschiedenen Schulformen findet erst in der 7. Klassenstufe statt. Die mit dieser gemeinsamen Beschulung bis zur 6. Klasse verbundene pädagogische Chance soll im Rahmen des Projektes auch für die außerschulische politische Bildung genutzt werden. Da in den letzten Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in einigen Praxisprojekten (unter anderem in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein) vermehrt die These diskutiert und belegt wird, dass Formen von politisch-sozialer Bildung auch bereits mit Kindern im Grundschulalter möglich sind, sollen nun auch im Projekt „Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten“ einzelne Maßnahmen mit dieser Altersgruppe durchgeführt werden.

Es geht uns darum, den Kindern gemeinsame Erlebnisse sowohl im Freizeit- als auch im Seminarbereich zu ermöglichen, die ein positives Gruppenklima erzeugen, ihren Zusammenhalt stärken und zeigen, dass es eine attraktive Freizeitgestaltung auch jenseits von Konsum und medialer Inszenierung gibt. Hiermit ist das langfristige Ziel verbunden, Kooperation statt Konkurrenz als Strategie von Zusammenleben wertschätzen zu lernen und das Gruppengefüge – auch über soziale oder kulturelle Grenzen hinweg – zu verbessern.

Identitäre Selbstverortung: uneindeutig

Identitätskonstruktionen haben - gerade auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund - einen großen Einfluss auf die Selbstverortung im gesellschaftlichen Gefüge. Die Erfahrungen aus unserer Bildungsarbeit zeigen, dass während der Seminare aufgezeigte Perspektiven der Integration von den Teilnehmenden wenig verinnerlicht werden, wenn nicht die eigenen Identitätskonstruktionen mit in den Blick genommen werden.

Identität verstehen wir als Entwicklung von Selbst- und Fremdzuschreibungen im wechselseitigen Prozess. Obwohl wir in dem Projekt Seminare und Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen durchführen, spielt die Frage der (kulturellen) Identität oft eine große Rolle: die eigene Biografie, die Erfahrungen und die eigene Selbstverortung werden zum Ausgangspunkt der Themenbearbeitung für die Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.

„Unsere Teilnehmenden zeigten großes Interesse, das Thema Identität und Kultur zu vertiefen. Dabei wurde viel über interkulturelle Konflikte, stereotype Klischees, über Nationalitäten und die Herausbildung von Identität gesprochen. Gerade die Fragen Wer bin ich?, Was macht mich aus?, Welche Bedeutung hat mein ‚Herkunftsland’ für meine Prägung? sind für unsere Zielgruppe zentral“ (Erfahrung aus einem Seminar mit einer Schulklasse aus Westberlin mit einem Anteil von rund 50% Jugendlicher mit Migrationshintergrund).

Aus unseren Seminaren ziehen wir folgende Schlüsse:

  • Zum einen lässt sich bei der Identitätsdefinition gerade von Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine relativ starre und starke Betonung von Zugehörigkeit zu ethnischer Gruppe, Herkunft oder, von ihnen selbst so genannt, „Mentalität“ für die eigene Identität ausmachen. An anderer Stelle konnten wir aber durchaus auch Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen in der Identitätsbildung dieser Jugendlichen feststellen. Unsere Bildungsarbeit muss den hybriden Identitäten Rechnung tragen und die Bedeutung unterschiedlicher Faktoren für die Identitätsbildung aufzeigen, ohne den Einfluss von Migration auf die Identitätskonstruktion zu negieren. Eine Unterstützung bei der Reflexion des Selbstbildes scheint nötig zu sein. Dabei darf die Behandlung des Themas Identität aber nicht stehen bleiben, denn letztlich muss aufgezeigt werden, dass Identität konstruiert ist und einige Faktoren – unter anderem die soziale Herkunft – entscheidender sein können als der Migrationshintergrund bzw. sich mit diesem auch überschneiden und vermischen.

„Die manifestierten dominanten Männlichkeitsbilder wurden mit der türkischen Herkunft begründet. In den Arbeitsgruppen wurden die Rollen nicht in Frage gestellt – weder von männlicher noch von weiblicher Seite, weder von „deutscher“ noch von „türkischer“ Seite. Die Teilnehmenden wiesen immer wieder darauf hin, dass es in türkischen Familien nun mal einfach so sei. Zwar wurde wenig Kritik an Geschlechterrollen laut, allerdings wurde rege darüber diskutiert, und es wurden zum Teil sehr unterschiedliche Meinungen vertreten. Nur bei einigen sehr traditionell eingestellten „türkischen“ und „deutschen“ Schüler/-innen war im Laufe des Seminars keine Positionsveränderung zu verzeichnen. Im Team wurde diskutiert, ob man womöglich selbst etwas entschiedener hätte Stellung beziehen müssen. Dies birgt jedoch die Gefahr einer Konfrontation, die Haltungen eher noch zementiert“ (Erfahrungen aus einem Seminar mit einer Schulklasse aus Berlin-Schöneberg mit 70 % Schüler/-innen türkischer und arabischer Herkunft).

  • Zum anderen verhindern gerade die „Identitätskonstruktionen“ die Solidarisierung unter den unterschiedlichen Migrantengruppen und unterstützen ein Konkurrenzdenken und die Tendenz zur Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Ausländern. Es wäre zu kurz gegriffen, den Jugendlichen dabei Rassismus vorzuwerfen. Denn diese Unterscheidung muss im Zusammenhang mit unserer Migrationspolitik gesehen werden: Die verschiedenen asyl- und migrationspolitischen Aufenthaltsstatute bilden eine Hierarchie, die die ausländische Bevölkerung in verschiedene Gruppen aufteilt und nach Ethnie, Herkunft etc. diskriminiert: Diese Hierarchie wirkt gezielt einer Solidarisierung von Migrantinnen und Migranten untereinander entgegen. Zudem bewirken verschiedenste Probleme bei der Integration (vor allem im Bereich der beruflichen Integration) eine abgrenzende Konkurrenz unter Migrationsgruppen. Hier wäre das Ziel von Bildungsarbeit mit Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die Anerkennung und Verinnerlichung von Vielfalt zu stärken und Vielfalt als Lebensqualität bewusst zu machen, Schnittmengen zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen und zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu suchen und Solidarität als Grundlage bei der Wahrnehmung gemeinsamer Interessen aufzuzeigen.

„Bei Diskussionen zum Thema ‚Identität’ wurden von den Teilnehmenden auch viele Klischees geäußert. Bei diesem Themenbereich zeigten viele Teilnehmende sehr starre Konstrukte über sich selbst und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten („national“ oder „religiös“) geprägten Gruppen. Dies ist aber auch zugleich eine großartige Chance, während des Seminars daran und damit zu arbeiten“ (Erfahrung aus einem Seminar mit Jugendlichen aus jüdischen und Aussiedlerfamilien).

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gesellschaftliche Teilhabe beginnt, wenn es gelingt, (selbst)ausgrenzende Identitätskonstruktionen aufzubrechen. Das setzt ein mit der Wahrnehmung der vielfältigen Beschaffenheit eigener Identität. Hier liegt die besondere Chance der außerschulischen politischen Bildung in Jugendbildungsstätten, weil diese ermöglichen, didaktische Konzepte umzusetzen, die genau an dieser sehr individuellen und oft auch angstbesetzten Auseinandersetzung anknüpfen.

Das Projekt „Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten“ wird gefördert von der Stiftung Jugendmarke, dem Landesjugendamt Brandenburg und der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung.