"Wenn Klischees und Mentalitäten zusammentreffen, wird das Zusammenleben nicht unbedingt einfach".

Kopf an Kopf: In der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein
10.02.2010 | 

Erfahrungen aus dem Projekt "Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten" - Wir dokumentieren im Folgenden einen Artikel von Bettina Dettendorfer und Christine Reich in: "Die Deutsche Jugend" Heft 2/2010.

Bettina Dettendorfer/ Christine Reich in: "Die Deutsche Jugend" Heft 2/2010

Im pdf-Format steht der Artikel hier zum Download.

"Deutschland ist kein Einwanderungsland". Der von Politikern aller Couleur in den 80er und 90er Jahren postulierte Slogan ist von der Realität überholt, auch die neuesten Zahlen belegen dies: Nach Angaben des Bundesministeriums des Inneren lebten in Deutschland im Jahr 2006 über 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, dies entspricht einem Fünftel der Bevölkerung Deutschlands. Davon sind fast sieben Millionen Ausländer/innen und ca. acht Millionen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sind vor allem Arbeitsmigrant(inn)en, aber auch viele eingebürgerte (Spät)Aussiedler/innen und Flüchtlinge sowie deren Nachkommen. "Personen mit Migrationshintergrund sind alle nach 1949 in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem Zugewan-derten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil."

Somit muss festgestellt werden und eiligst in den letzten Jahren einberufene Integrationsgipfel scheinen dies zu bestätigen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dieses Eingeständnis dauerte sehr lange und auch heute setzen sich nur langsam Ansätze zur Gestaltung unserer Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft durch. Dabei sind Integrationsprozesse in unserer pluralen Gesellschaft unabdingbar, wobei Integration nicht als Anpassung oder gar Assimilation der Zuwander/innen verstanden werden darf; denn dann wäre ein Scheitern unweigerlich absehbar. Integration ist in unserem Verständnis ein gegenseitiger, interaktiver Prozess zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den verschiedenen Minderheiten. Sie bedeutet nicht Selbstaufgabe der eigenen Identität, sondern eine Erweiterung der Kompetenzen und eine Entwicklung eines dynamischen Verständnisses von Gesellschaft und Kultur bei allen Beteiligten. Eine Partizipation aller hier Lebenden und die Förderung von Integrationsprozessen durch zielgruppengerechte Angebote ist dabei unentbehrlich.

Kurze Übersicht über die Migrationsgeschichte in Deutschland

Eine deutsche Migrationsgeschichte gibt es nicht erst seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland (nachfolgend BRD). Bereits Ende des 19. Jahrhunderts konnte der Bedarf der expandierenden Industrien nach Arbeitskräften nicht mehr nur durch den natürlichen Bevöl-kerungszuwachs gedeckt werden. Bis zum ersten Weltkrieg kamen über 1,2 Millionen Arbei-ter/innen aus den preußischen Ostprovinzen nach Deutschland. Obwohl sie die preußische Staatsangehörigkeit hatten, sprachen sie Polnisch und galten nicht als Deutsche - dies er-schwerte ihre Integration. Nach dem ersten Weltkrieg sank die Zahl der Arbeits-migrant(inn)en deutlich, dafür nahm die Zahl der Zwangswanderungen zu, bedingt durch Flucht, Vertreibung und Umsiedlung nach den Versailler Verträgen und der russischen Revolution. Von 1933 bis 1945 gab es die größten Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, ausgelöst durch Flucht, Vertreibung, Deportation oder Zwangsarbeit.

Mit Gründung der BRD, den ersten Jahren des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich die BRD zu einem wichtigen Ziel für Arbeitsmigration. Dem in den 50er Jahren virulent werdenden Arbeitskräftemangel wurde durch Anwerbeverträge mit unterschiedlichen Ländern in Europa begegnet (1955 Italien, 1960 Spanien und Griechenland). Ab 1961 kamen erste Gastarbeiter/innen aus der Türkei in die BRD. Auch in der DDR gab es seit Ende der 60er Jahre ein verstärktes Anwerben von ausländischen Vertragsarbeiter(inne)n, vor allem aus Ländern wie Polen, Kuba, Mosambik und Vietnam, um einem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.

Als die Ölkrise 1973 gravierende Auswirkungen auf die Ökonomie der BRD zeigte, wurde ein Anwerbestopp für Gastarbeiter verhängt. Nicht wenige der bereits seit einigen Jahren in der BRD arbeitenden Gastarbeiter verließen sie damals wieder. Dennoch stieg die ausländische Bevölkerung in der BRD bis Ende der 80er Jahre im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor an, bedingt durch den gesetzlich legitimierten Familiennachzug. Nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion prägten zu Beginn der 1990er Jahre neue Zuwanderungsgruppen die Immigration in Deutschland: Als "deutschstämmige Spätaussiedler" kamen viele Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Rahmen von speziellen Aufnahmeverfahren nach Deutschland. Ebenfalls von dort kamen seit Mitte der 90er Jahre jüdische Emigrant(inn)en.

Diese unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen prägen auch die Region Berlin-Brandenburg: In Berlin leben unter den 3,4 Millionen Einwohner(inne)n ca. 13 % Menschen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit. Die größte "Migrationscommunity/MIgrationsgruppe" sind Menschen mit türkischem Migrationshintergrund - jedoch handelt es sich dabei um keine geschlossene, homogene oder überschaubare Gruppe. Das Leben der 200.000 Berliner/innen mit "Migrationshintergrund Türkei" umfasst alle Altersstufen und soziale Schichten. Auch in Brandenburg wird Zuwanderung zunehmend zur Realität. Ende 2007 lebten ca. 50.000 ausländische Menschen (sprich ohne deutsche Staatsangehörigkeit) in Brandenburg, was einem Bevölkerungsanteil von unter 2 % entspricht. In dieser Zahl nicht enthalten sind Spätaussiedler/innen sowie ca. 3.000 jüdische Kontingentflüchtlinge , die mit dauerhaftem Aufenthaltsstatus und ein zumindest formal zugesichertem Zugang zum Arbeitsmarkt in Brandenburg leben.

Problemstellungen und Herausforderungen für die politische Bildungsarbeit

Zur Förderung der Integration der erwachsenen Zuwander/innen gibt es seit Jahren unterschiedliche Mittel und Förderinstrumente. Sie reichen von einer Orientierungsberatung über Informationen hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt bis hin zu Sprachkursen. Neu wurden im Bereich der Erwachsenenbildung Kurse eingeführt, die Sprachschulung mit politischer Bildung verbinden. Für Jugendliche gibt es kaum neue und zusätzliche Integrationsangebote, die über Schule und Jugend(sozial)arbeit hinausgehen.

Obwohl Jugendliche mit Migrationshintergrund hier in Deutschland geboren sind, mit gleichaltrigen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zusammen leben, die gleiche Schule besuchen, dieselben Interessen haben und sich täglich begegnen, gibt es viele, die sich oftmals in ihre Community zurückziehen und unter sich bleiben. Sie beziehen sich auf ihre vermeintliche Gruppenidentität und schreiben dem ursprünglichen Gemeinwesen im Herkunftsland, das sie oft selbst nur aus den Erinnerungen der Eltern oder Großeltern überliefert bekommen haben, zum Teil verklärte Vorstellungen zu. Bei vielen Jugendlichen der dritten Einwandergeneration ist festzustellen, dass sie die Lektion gelernt haben, die ihre Eltern erfahren hatten: Diese wollten sich integrieren, wurden aber zurückgewiesen; viele der heutigen Jugendlichen haben sich in Ghettos eingerichtet und verweigern sich den Integra-tionsbemühungen, nicht selten verstärkt durch erlebte Erfahrung von Benachteiligungen als "Ausländer". Dieses als "innere Migration" bezeichnete Phänomen führt nicht selten zum Rückzug von der sozialen Außenwelt und gesteigertem Konfliktpotenzial in der Interaktion mit anderen. Zusätzlich erhöht die Migrationssituation, die auch in der dritten Generation noch präsent ist, die Nachteile geringer schulischer und beruflicher Bildung, so dass nicht wenige jugendliche Zuwanderer/innen ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz sind.

Die zunehmende Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft ist eine Herausforderung, die sich als Grundverständnis auch im pädagogischen Bereich widerspiegeln muss. Viele Angebote im schulischen oder sozialpädagogischen Bereich haben in den letzten Jahren damit begonnen, diese Herausforderungen anzunehmen. Doch wie sieht es mit der außerschulischen Jugendbildung aus?

Die außerschulische politische Jugendbildung muss sich der Frage stellen, welchen Beitrag sie zur Verbesserung der Integration von Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien leisten kann. Was sind spezifische Instrumente und didaktische Konzepte, Methoden und Techniken, mit denen politische Jugendbildung Inte¬grationsbemühungen unterstützen und neue Integrationsmöglichkeiten schaffen kann? Politische Jugendbildung steht in der Pflicht, Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen zu finden, mit denen Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund konfrontiert sind.

Das Projekt "Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten" - Zielgruppe und Umsetzung

Einen kleinen Beitrag zur Integration von jugendlichen Zuwander(inne)n konnte die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein mit ihrem Projekt "Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten" in der Region Berlin / Brandenburg (Landkreis Barnim) in den Jahren 2006-2008 verwirklichen. In dem Projekt wurde das Ziel verfolgt, mittels qualitativer Angebote der außerschulischen politischen Jugendbildung zur Integration jugendlicher Zuwanderer/innen spezifischer Migrantengruppen beizutragen und ihnen neue Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Durch eine Vielzahl miteinander abgestimmter Angebote wurde den Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, Schlüsselqualifikationen und soziale Kompetenzen zu erwerben; zudem wurden ihre Fähigkeit zur Partizipation und ihre Bereitschaft zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen gestärkt. Wichtig war dabei, sowohl Jugendliche mit Migrationshintergrund als auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund gezielt anzusprechen, um unserem Verständnis von Integration als gegenseitigem, interaktivem Prozess zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den insbesondere ethnisch begründeten Minderheiten gerecht zu werden. Mit der Durchführung des Projekts stellte sich eine zentrale Frage: "Wie kann die politische Bildung zu bestimmten Aspekten von Integration von Jugendlichen beitragen?"

Das Projekt sprach die Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen an: biographisch eine Phase der Ablösung vom Elternhaus, der Findung eigener (politischer) Positionen und im Übergang von Schule und Beruf. Im Laufe des Projekts wurden aufgrund der Erkenntnisse und Erfahrungen auch jüngere Jugendliche einbezogen. Dabei richtete sich das Projekt explizit an bildungsbenachteiligte Jugendliche mit Migrationshintergrund, die aus drei unterschiedlichen Herkunftsgemeinschaften kommen: Angesprochen wurden Jugendliche mit türkischer Herkunft, die als dritte Generation der in den 60er und 70er Jahren eingewanderten Arbeitsmigrant(inn)en in Berlin leben (vor allem aus Westberliner Stadtteilen), jugendliche Aussiedler/innen aus der ehemaligen Sowjetunion (eher aus Ostberliner Stadtteilen) und Jugendliche jüdischen Glaubens, deren Eltern ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunion nach ihrem Zusammenbruch einwanderten (Jugendliche der jüdischen Gemeinde Landkreis Barnim, Brandenburg). Um die Jugendlichen aus den unterschiedlichen migrantischen Communities gezielt ansprechen und spezifische Lebensrealitäten wahrnehmen zu können, kooperierte das Projekt mit Partner(inne)n vor Ort, die Zugang zu den Zielgruppen haben.

In der ersten Phase des Projekts fanden mit den oben genannten Zielgruppen unterschiedliche Workshops und Trainings statt. Ziel war es, durch spezifische miteinander abgestimmten Module jugendliche Migrant(inn)en in ihrer Alltagsbewältigung zu unterstützen. Es ging darum, sie in die Lage zu versetzen, ihre Interessen selbst zu formulieren und zu vertreten, eigene Fähigkeiten sowie Fertigkeiten zu erkennen und zu stärken (Empowerment) sowie Problemlagen zu erkennen und Lösungsmöglichkeiten zu finden. In der zweiten Phase wurde versucht, die Fähigkeit zu Partizipation und die Bereitschaft zur Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu stärken. Hierzu fanden u.a. im zweiten Halbjahr 2008 sechs zweitägige Veranstaltungen in verschiedenen Stadtteilen statt. Dies stellte im lokalen Umfeld eine Ergänzung bzw. Fortführung zu dem dar, was zuvor in der Bildungsstätte stattfand.

Mit jährlich insgesamt 15 bis 20 Seminaren wurden unterschiedlichste Zielgrup-penzusammensetzungen erreicht: die Jugendlichen wurden sowohl als "Migrationsgruppe" als auch in natürlichen Gruppen (z.B. aus Haupt-/Realschulen) angesprochen. Auch gab es Begegnungsseminare mit Jugendlichen aus verschiedenen Communities. Das Themenspektrum umfasste Kommunikationstrainings, Workshops zur Berufsorientierung, Konfliktbewältigung, Demokratie und Interessenvertretung, geschlechtsspezifische Rollenbilder, Diskriminierung und Ausgrenzung sowie die eigene biographische Selbstverortung und identitäre Zuschreibungen.

Mit biographischen Methoden wurden die Erfahrungen der Teilnehmenden zum Ausgangspunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung gemacht. Die verschiedenen Sozialisationserfahrungen und die Bedeutung von Geschlechtlichkeit auch für die Entwicklung von Handlungsstrategien wurden dabei immer wieder thematisiert. In Kleingruppen wurde produkt- und prozessorientiert und methodisch vielfältig gearbeitet. So wurden zusätzliche Reflexionsebenen ermöglicht und wurde Lernen als grundsätzlich dynamisch und vielfältig erfahrbar gemacht.

Erfahrungen und Ergebnisse aus der Projektdurchführung

Eine der zentralen Fragestellungen des Projekts war, welches die Aufgabe der politischen Bildung zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von jungen Menschen mit Migrationshintergrund sein kann. In der pädagogischen Fachdiskussion gibt es dazu unterschiedliche Ansätze. Unsere Erfahrungen spiegeln sich in folgenden Schlussfolgerungen wider: Die Macht der Sprache
Im Diskurs um Migration und die Einwanderungsgesellschaft gibt es mehrere Fallstricke. Wir als politische Bildner/innen müssen uns bewusst sein, dass das "Andere", das "Fremde" immer auch über Sprache konstruiert und gefestigt wird. Bezeichnungen wie "Gastarbeiter", "Ausländer", Zuwanderer", "Einwanderer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" spiegeln einerseits den Wandel von Situationen, Begrifflichkeiten und Ideologien wider, verdeutlichen andererseits aber auch den in der Gesellschaft synonymen, unreflektierten Gebrauch und die Gefahr der Zuschreibung einer "Nicht-Zugehörigkeit", denn der Migrationsdiskurs thematisiert immer Zugehörigkeiten. Selbst der heute oft verwendete Begriff "Menschen mit Migrationshintergrund" homogenisiert nicht selten eine äußerst heterogene Gruppe von Menschen, die in der Realität oft nichts miteinander zu tun haben. Darüber hinaus wird der Einwanderungsdiskurs oft als Problemdiskurs geführt, in dem Defizit-Bilder von bestimmten migrantischen Gruppen verbreitet werden. Politische Bildung muss dafür sensibilisieren und selbst darauf achten, diese Bilder nicht zu konstruieren bzw. zu kopieren. Sie sollte zu einem Nachdenken über Bezeichnungen und die über sie vermittelten Botschaften anregen und darauf achten, ihren Zielgruppen nicht Zugehörigkeiten zuzu-schreiben, die für diese in ihrem Selbstbild gar keine Rolle spielen. Deshalb ist das Motto wichtig:

Auf Differenzierungen achten, Diversity anerkennen

Egal ob nun jugendliche oder erwachsene Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund als Zielgruppe spezifischer Projekte der politischen Bildung angesprochen werden sollen, es ist unabdingbar, Differenzierungen z.B. auch nach unterschiedlichen Migrationsgruppen zu treffen. Gleichzeitig bleibt aber zu bedenken, dass unter Umständen z.B. die soziale Herkunft, das Geschlecht oder die Migrationsgeneration etc. weitaus bedeutender oder sinnvoller für eine Differenzierung sein kann. Es geht nicht um Migration alleine, sondern um die verschränkte Formen von Ausgrenzung, wie zum Beispiel soziale Herkunft und Migrationshintergrund. So kann beispielsweise ein Abiturient mit türkischem Migrationshintergrund mehr mit einem Abiturienten ohne Migrationshintergrund gemeinsam haben als mit Absolventen der Hauptschule mit türkischem Migrationshintergrund. Manchmal sind die Möglichkeiten je nach Zielgruppe für die politische Bildung begrenzt. Zum Beispiel haben Jugendliche mit einem deutschen Pass einen anderen Zugang zur gesellschaftlichen Mitbestimmung als Jugendliche, die in Deutschland nur geduldet sind, sprich eventuell nur begrenzte Zeit in Deutschland leben und deren Lage rechtlich unsicher ist. Es ist für das Setting der politischen Bildung unerlässlich, die Vielfalt unterschiedlicher Zielgruppen auf Seiten der Menschen mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen - ebenso wie es in der politischen Bildungsarbeit als selbstverständlich gilt, bei Menschen ohne Migrationshintergrund auch von heterogenen Lebensentwürfen auszugehen. Auch die politische Bildung muss sich mit Fragen von Transkulturalität beschäftigen: In Zeiten, in denen Leben und Arbeit zunehmend transnational organisiert sind und das Nationalstaatskonzept einen Wandel erfährt, stellen Pädagogen wie Paul Mecherill den einfachen Migrationsbegriff in Frage. Immer mehr Menschen fühlen sich in verschiedenen Ländern und Kulturen zuhause, sie empfinden eine "Mehrfach-Zugehörigkeit". Diese Vielfalt ist die Grundlage der Auseinandersetzung einer politischen Bildung, die die Erfahrung der Teilnehmenden in den Mittelpunkt stellt.

Gleichzeitiger Weg

Unsere Erfahrungen bestätigen, dass es sinnvoll ist, Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund in ihren natürlichen Gruppen (also z.B. in der Schule) gemeinsam anzusprechen und klassische Inhalte von (interkultureller) politischer Bildung zu vermitteln: nämlich die Aufarbeitung von Vorurteilen und das Anerkennen von Vielfalt. Wenn politische Bildung die Integration von jugendlichen Migrant(inn)en unterstützen soll, ist auch die Entwicklung gemeinsamer Werte mit anderen Jugendlichen als Lebensgrundlage wichtig. Ziel ist die Förderung der Bereitschaft zu einer die eigene Identität nicht aufhebenden, sondern einbringenden Integration. Der Beitrag der politischen Bildung zur Integration heißt also durchaus auch, Gemeinsamkeiten zu entdecken und ein Wir-Bewusstsein zu entwickeln, das zu dem gemeinsamen gesellschaftlichen Engagement führt, die Lebenswelt zu gestalten.

Politische Bildung von Anfang an

Obwohl im Sinne der ursprünglichen Projektidee Grundschüler/innen der 5. und 6. Klasse nicht unmittelbar zur Zielgruppe des Projekts gehörten, wurden Maßnahmen mit Jugendlichen in diesem Alter durchgeführt. Dabei stellt die Situation in Berlin und Brandenburg, dass die 5. und 6. Klasse noch der Grundschule zugeordnet ist, eine Besonderheit dar, die es ermöglicht, alle Jugendliche aus einem Wohnumfeld gemeinsam anzusprechen. Die Aufteilung nach verschiedenen Schulformen findet erst in der 7. Klassenstufe statt. Die mit dieser bildungspolitischen Grundsatzentscheidung verbundene pädagogische Chance wurde im Rahmen des Projekts auch für die außerschulische politische Bildung genutzt. Da in den letzten Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in einigen Praxisprojekten (unter anderem in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein) vermehrt die These diskutiert und belegt wird, dass Formen von politisch-sozialer Bildung auch bereits mit Kindern im Grundschulalter durchgeführt werden können, wurden auch im Projekt "Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten" einzelne Maßnahmen mit dieser Zielgruppe durchgeführt.

Hinsichtlich der Zielsetzungen des Projekts stand im Vordergrund, den Kindern und jungen Jugendlichen positive gemeinsame Erlebnisse sowohl im Freizeit- als auch im Seminarbereich zu ermöglichen, die ein positives Gruppenklima erzeugen, den Gruppenzusammenhalt stärken und Freizeitgestaltung jenseits von Konsum und medialer Inszenierung spannend machten. Hiermit ist langfristig das Ziel verbunden, Kooperation statt Konkurrenz als Strategie von Zusammenleben wertschätzen zu lernen und das Gruppengefüge - auch über soziale oder kulturelle Grenzen hinweg - zu verbessern. Denn das Erleben von Gemeinsamkeiten führt - gerade in einer Gruppe, in der Kinder mit und ohne Migrationshintergrund als natürliche Gruppe zusammen sind - dazu, eine konstruierte Wirklichkeit in Kategorien von "Wir" und "Ihr" fernab von scheinbar kulturell oder sozial Trennendem aufzubrechen.

Arbeit an und mit Identitätskonstruktionen

Identitätskonstruktionen haben - gerade auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund - einen großen Einfluss auf die Selbstverortung im gesellschaftlichen Gefüge. Die Erfahrung unserer Bildungsarbeit zeigen, dass in Seminaren aufgezeigte Perspektiven der Integration von den Teilnehmenden wenig verinnerlicht werden, wenn nicht die Frage der eigenen Identitätskonstruktionen mit in den Blick genommen wird.

Identität verstehen wir als Entwicklung von Selbst- und Fremdzuschreib¬ungen im wechselseitigen Prozess. Obwohl wir in dem Projekt Seminare und Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen durchführen, spielt die Thematik der (kulturellen) Identität oft eine große Rolle: Die eigene Biografie, die Erfahrungen und die eigene Selbstverortung werden zum Ausgangspunkt der Themenbearbeitung für die Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund.

Schlussfolgerungen

Aus unseren Seminaren ziehen wir folgende Schlüsse: Identitäre Selbstverortung: uneindeutig

Zum einen lässt sich bei den am Projekt beteiligten Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Hinblick auf die eigene Identität eine relativ starre und starke Betonung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, zur Herkunft oder zu einer von ihnen selbst so benannten "Mentalität" ausmachen. Andererseits konnten aber durchaus auch Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen in der Identitätsbildung der Jugendlichen festgestellt werden. Unsere Bildungsarbeit muss den hybriden Identitäten Rechnung tragen und die Bedeutung unterschiedlicher Faktoren für die Identitätsbildung aufzeigen, ohne den Einfluss von Migration auf die Identitätskonstruktion zu negieren. Eine Unterstützung bei der Reflexion des Selbstbildes scheint nötig zu sein. Dabei darf die Behandlung der Thematik Identität aber nicht stehen bleiben, denn letztlich muss aufgezeigt werden, dass Identität immer ein soziales Konstrukt ist und einige Faktoren - unter anderem die soziale Herkunft - entscheidender sind als der Migrationshintergrund bzw. sich mit diesem auch überschneiden und vermischen.

Zum anderen verhindern gerade die "Identitätskonstruktionen" die Solidarisierung unter den Migrationsgruppen und unterstützen ein Konkurrenzdenken und Unterscheiden von "guten" und "schlechten" "Ausländern". Es wäre zu kurz gegriffen, dabei an Rassismus zu denken. Denn diese - auch unter Jugendlichen getroffene - Unterscheidung muss im Zusammenhang mit der Struktur deutscher Migrationspolitik gesehen werden: Die verschiedenen asyl- und migrationspolitischen Aufenthaltsstatus bilden eine Hierarchie, die die migrantische Bevölkerung in verschiedene Gruppen aufteilt und nach Ethnie, Herkunft etc. gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Diese Hierarchie wirkt gezielt einer Solidarisierung von Migrantinnen und Migranten untereinander entgegen. Zudem bewirken verschiedenste Probleme bei der Integration (vor allem im Bereich der beruflichen Integration) eine abgren-zende Konkurrenz unter Migrationsgruppen. Hier wäre das Ziel von Bildungsarbeit mit Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die Anerkennung von Vielfalt als Lebensqualität zu stärken, Schnittmengen zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen untereinander und auch mit Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu suchen und Solidarität als Strategie zum Erreichen gemeinsamer Interessen aufzuzeigen.

(Selbst)ausgrenzende Identitätskonstruktionen aufzubrechen scheint nach unseren Erfahrungen der Ausgangspunkt für gesellschaftliche Teilhabe zu sein. Den Anfang bildet dabei die Wahrnehmung der vielfältigen Beschaffenheit der eigenen Identität. Hier liegt die besondere Chance der außerschulischen politischen Bildung in Jugendbildungsstätten, die die Möglichkeit bietet, didaktische Konzepte zu entwickeln, die genau an dieser sehr individuellen und auch angstbesetzten Frage ansetzen Partizipation und Mitbestimmung stärken

Bei mehreren Veranstaltungen zur Partizipation fiel auf, dass den Jugendlichen Rolle, Verantwortung und Möglichkeiten der Partizipation oft nicht klar waren. Aufgefallen ist auch ihre niedrige Frustrationstoleranz. Die Kritik an bestehenden Zuständen war meist produktiv, aber dann scheiterten sie oft an der Phase der Umsetzung in konkrete Handlungsschritte. Einerseits fehlen ihnen dafür die Kompetenzen: Sie wissen weder, wie sie handeln sollen, an wen sie sich zu wenden haben oder von wem sie Unterstützung erhalten könnten, noch ist ihnen klar, welche Rolle sie selbst dabei spielen und welche Verantwortung sie dabei tragen. Andererseits realisieren die Jugendlichen oft nur schwer, dass Selbstorganisation und Engagement für Veränderungen notwendig sind.

Daraus ergibt sich:

  • - Die Stärkung von Partizipationsmöglichkeiten ist für die Integration wichtig. Jugendliche müssen erfahren, dass ihre Belange ernst genommen werden und ihre Partizipation auch Wirkung zeigen kann. Dies sollte vor allem an den Orten der Jugendlichen selbst geschehen.
  • - Jugendliche werden Beteiligungsmöglichkeiten nur nutzen und nutzen können, wenn sie auf Beteiligungsmöglichkeiten vorbereitet werden.
  • - Die Jugendlichen benötigen Unterstützung auch über rechtliche Rahmenbedingungen hinaus. Es wäre - auch als Aufgabe der politischen Bildung - wichtig, bereits im Grundschulalter Kommunikations- und Teamtrainings durchzuführen, damit notwendige Kompetenzen zum Vertreten eigener Interessen früh vermittelt werden.
  • - Es sollte so früh wie möglich eine qualifizierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Abläufen von Mitbestimmung durchgeführt werden, um auf selbständiges Handeln vorzubereiten.
  • - Den gesellschaftlichen Dialog über Einwanderung zu führen ist wichtig und richtig. Bei Jugendlichen hat er verschiedene Dimensionen (Ausgrenzung, Mobbing, Konflikte, Gewalt, Partizipation und Teilhabe gehören dazu). Diese sollten zum Schwerpunkt gemacht werden.
  • - Jugendliche bei der Gestaltung ihres Umfelds mit einzubeziehen muss ein kontinuierlicher Prozess sein. Kurzfristige Aktivitäten, die nicht langfristig abgesichert sind, tragen die Gefahr, eher zu Frusterlebnissen zu führen statt Partizipation als Prozess zu implementieren. Vieles hängt dabei auch von der persönlichen Beziehung ab.

In unserem Projekt "Das Einwanderungsland Deutschland gemeinsam gestalten" mussten wir auch feststellen, dass es für die Entwicklung lokaler Integrationspläne als Bestandteil einer Regionalplanung einer anderen Projektausrichtung bedarf und diese von der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit (im klassischen Sinn) alleine nicht zu leisten ist.

Fazit

Unser Projekt verlief insgesamt positiv. Über den gesamten Projektzeitraum war die Nachfrage nach unseren Seminaren hoch, außergewöhnlichere Angebote wurden gut angenommen und mit Erfolg durchgeführt. In den über 40 Veranstaltungen in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein und vor Ort in Berlin und Brandenburg wurden im Projektzeitraum fast 1.000 Jugendliche erreicht.

Unser konzeptionelles Prinzip, an der Identitätsbildung der Jugendlichen anzusetzen, erwies sich als sinnvoll. Es ermöglicht im zweiten Schritt, die Anerkennung und Verinnerlichung von Vielfalt als Lebensqualität zu stärken, pauschalisierten Zuschreibungen entgegenzutreten und Schnittmengen zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen untereinander und auch mit Jugendlichen ohne Migrationshintergrund zu suchen und Solidarität als Strategie zum Erreichen gemeinsamer Interessen aufzuzeigen.

Die Chance der außerschulischen politischen Bildung in Jugendbildungsstätten liegt darin, Angebote zu schaffen und didaktische Konzepte zu entwickeln, die an konkreten Fragen der Jugendlichen ansetzen. Entscheidend ist auch, dass die Erfahrung von Vielfalt mit den gleichen Personen gemacht wird, mit denen die Jugendlichen sonst den (Schul-)Alltag teilen. Mit diesen neuen Erfahrungen kehren sie in den Schulalltag zurück. Dadurch können Gruppenprozesse angestoßen werden und festgefahrene Verhältnisse aufgelockert werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass solche Entwicklungen als Bereicherung er-fahren werden, von den meisten Jugendlichen werden sie jedoch positiv bewertet.

Dabei müssen auch die Grenzen politischer Bildung gesehen werden. Für eine Entwicklung lokaler Integrationspläne als Bestandteil einer Regionalplanung müssen andere Wege gegangen werden. Auch ist es unerlässlich, Kooperationspartner/innen vor Ort zu gewinnen. Die Stärkung von Partizipationsmöglichkeiten - sich an demokratischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen zu beteiligen - ist ein wichtiges Feld politischer Bildung. Damit Partizipation auch Wirkung zeigen kann, ist es unerlässlich, die Orte der Jugendlichen selbst aufzusuchen und einen kontinuierlichen Prozess anzustoßen.

Politische Jugendbildung wird gesellschaftliche Ungleichheiten mit ihren Angeboten nicht lösen. Wichtig ist, dabei zu erkennen, dass Formen struktureller Diskriminierung vorliegen, wenn z.B. 50,6 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund keine Berufsausbildung haben; diese strukturelle Diskriminierung gilt es zu benennen und zu diskutieren, um Ungleichverteilung entgegentreten zu können.

Der Ansatz politischer Bildungsarbeit muss auf Differenzierung achten. So wie es sich politische Bildung zur Aufgabe gemacht hat, Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen, so muss es ihr gelingen, mit den Konfliktpotentialen zwischen Mehrheits- und Minderheitsangehörigen konstruktiv und zielgerichtet umzugehen. Ebenso wie die Kategorie Gender muss auch die Tatsache, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist, ein Querschnittsthema der politischen Bildung sein, das immer mitgedacht werden muss.

Politische Bildung kann dazu beitragen, dass Jugendliche mit und ohne Migra-tionshintergrund Antworten auf Orientierungs- und Zukunftsfragen selbst bestimmt finden können und eine eigene Position innerhalb des demokratischen Gemeinwesens für sich entwickeln. Es ist wichtig, unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven der Mehrheiten und Minderheiten in den Blick zu nehmen und sie in einem kontinuierlichen Verständigungsprozesses ins Verhältnis zu setzen - ein Prozess, der alle in Deutschland lebenden Menschen als Teil der Gesellschaft mit einbezieht, so dass eine gleichberechtigte Teilhabe am politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben für alle hier lebenden Menschen möglich wird.