Zur Aktualität Kurt Löwensteins für die politische Jugendbildung

Foto: Archiv der Arbeiterjugendbewegung

Von Thomas Gill

Bei der Lektüre der einschlägigen Werke zur politischen Bildung in Deutschland fällt auf, dass diese in aller Regel den Beginn der Tradition insbesondere der politischen Jugendbildung mit der Re-Education der fünfziger Jahre ansetzen. Dies ist auf die Breite gesehen ohne Zweifel richtig, blendet aber aus, dass es bereits eine durchaus vielfältige Tradition der politischen Jugendbildung in der Weimarer Republik – insbesondere auch im Umfeld der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung - gab. Der sozialdemokratische Bildungs- und Kulturpolitiker Kurt Löwenstein, Abgeordneter des Deutschen Reichstags von 1920 bis 1933, und die ganz wesentlich von ihm geprägte sozialdemokratische Kinderorganisation der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde“ sind Vertreter dieser Tradition. Sein 70ster Todestag am 8. Mai 2009 war Anlass für die nach ihm benannte Jugendbildungsstätte in Werneuchen, über Anknüpfungspunkte an seine Pädagogik für die heutige Theorie und Praxis der politischen Jugendbildung nachzudenken.

Wer war Kurt Löwenstein?

Löwenstein gehört zum Kreis der sozialdemokratischen Linken um den deutschen Reichstagsabgeordneten Paul Levi und den österreichischen Universitätsprofessor Max Adler, die im Anschluss an Rosa Luxemburg deren theoretische Reflexionen zum Verhältnis von Revolution, Demokratie und Sozialismus auf die Bedingungen der parlamentarischen Republik beziehen. Zentrale Schlussfolgerung ist die Erkenntnis, dass im Falle einer revolutionären Situation, so wie sie 1918 bestand, die Menschen dazu in der Lage sein müssen, diese Chance zur Veränderung zu nutzen und die neuen Möglichkeiten auszugestalten. Dies führt zu einem spezifischen Verständnis von Politik, das Organisation, Aufklärung und politischen Kampf nicht als separate Elemente, sondern als aufeinander bezogene Ausdrucks- und Gestaltungsformen desselben Prozesses begreift. Nur so kann im Prozess der Gesellschaftsveränderung sichergestellt werden, dass die Menschen selbst, „die proletarische Masse“, nicht zum Objekt anderer, „einer Avantgarde“ werden, sondern Gesellschaftsveränderung zugleich – modern gesprochen – als Lernprozess organisiert ist. Dies hat Konsequenzen für das spezifische Konzept „politischer Bildung“ Löwensteins.

Neben seinem Engagement als Bildungspolitiker hat sich Löwenstein vor allem als erster Vorsitzender der 1924 gegründeten Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde mit pädagogischen Fragen auseinandergesetzt. Die Erfolgsgeschichte der Kinderfreunde ist legendär. Nach den von den Kinderfreunden selbst 1932 veröffentlichten Zahlen hat die Organisation zur Anfangszeit 1923 ganze 54 Ortsgruppen. Im Jahr 1932 sind es 1.100, in denen sich rund 200.000 Kinder, Helfer und Eltern organisieren. Sie sind damit die größte Kinderbewegung weltweit.

Herzstück der Kinderfreunde sind die drei- bis viermal wöchentlich stattfindenden Kindergruppen, aufgeteilt in drei Altersbereiche von 6 bis 16 Jahren. Hier geht es den Kinderfreunden um zweierlei: einerseits sollen die Kinder Betreuung, Unterstützung und Förderung jenseits der Alltagserfahrungen von Arbeiterkindern in der Weimarer Republik erhalten. Dazu gehörten nicht nur die Benachteiligung in Schule und Öffentlichkeit, Wohnungsnot, schlechte Ernährung und fehlende Anregung, sondern auch der Mangel an Unterstützung, Achtung und Zuneigung in der eigenen Familie. Andererseits ist damit auch die politische Zielsetzung verbunden, dass die Kinder und Jugendlichen erfahren, was es heißt, Mitbestimmung, Demokratie und Selbstbestimmung zu leben und die eigenen Angelegenheiten in der Gruppe gemeinsam zu regeln.

Mit dem Konzept der Kinderrepubliken als Großzeltlager findet diese Pädagogik nach der Kinderrepublik in Seekamp 1927 eine adäquate Ergänzung und verlagert die Demokratieerziehung von der Gruppen- und Ortsgruppengestaltung auf die größere Ebene einer - quasi für vier Wochen entstehenden - Kleinstadt auf der grünen Wiese. Dass dies zunächst vor allem auf Formen des Parlamentarismus zurückgreift mit Wahlkampf etc., wird von Löwenstein selbst als aktuell erreichter Stand der Entwicklung gesehen. Bei der Einschätzung der parlamentarischen Verfahren in den Kinderrepubliken darf allerdings nicht vergessen werden, dass Arbeiter keine zwanzig Jahre zuvor im Kaiserreich zwar Abgeordnete werden konnten, aber weder Minister noch Regierungschef, ja selbst nicht einmal Landrat, Bürgermeister oder irgendein anderes Amt der Exekutive übernehmen konnten – und hier sind Arbeiterkinder bei der Leitung eines Zeltlagers mit über 2.000 Teilnehmenden beteiligt und entscheiden über ihre gemeinsamen Geschicke.

Besonderen Angriffen waren die Kinderfreunde wegen ihrer Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen ausgesetzt, die „gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter“ wie es damals hieß, war in der Weimarer Republik für die starken reaktionären Kräfte und auch für die katholische Kirche eine ungeheure Provokation.

Die Kinderfreunde entfalten auch eine enorme Wirkung als laienpädagogische Bewegung; über 10.000 Helferinnen und Helfer und über 70.000 Eltern werden erreicht. Das ist auch ein ganz wichtiger Beitrag zur deutlichen Verbesserung der Situation der Kinder in ihrem familiären Alltag.

Lebensdaten Kurt Löwensteins

Kurt Löwenstein wird 1885 in eine jüdische Kaufmannsfamilie im Niedersächsischen Bleckede geboren. Ein Stipendium ermöglicht ihm den Besuch einer weiterführenden Schule. Er tritt in ein orthodoxes Rabbinerseminar ein. Zunehmende Zweifel veranlassen ihn zum Austritt nicht nur aus dieser Institution, sondern auch aus seiner Religionsgemeinschaft. Löwenstein wird Freidenker.

Er studiert Pädagogik und schließt 1910 seine Doktorarbeit ab. Zu Beginn des ersten Weltkriegs gehört Löwenstein zu den wenigen, die die allgemeine Kriegsbegeisterung nicht teilen. Er meldet sich als Sanitäter beim Roten Kreuz, um keine Waffe tragen zu müssen, und erfährt so das ganze Ausmaß des Kriegselends unmittelbar.

Er kommt als Mitglied eines Soldatenrats aus dem Krieg zurück und wird sofort politisch aktiv. Er wird Mitglied der USPD, und als deren führender Bildungspolitiker arbeitet er das Schulprogramm von 1919 mit aus. Löwenstein und der USPD war es wichtig, grundlegend mit dem alten obrigkeitsstaatlichen Bildungswesen zu brechen und die Produktion von Untertanen und die frühzeitige Selektion der Kinder nach dem Einkommen ihrer Eltern ein- für allemal abzuschaffen.

Doch Löwenstein muss erfahren, dass die Mehrheitssozialdemokratie - auch in der Bildungspolitik - den Kompromiss mit den bürgerlichen und katholischen Kräften sucht. Die weltlichen Gemeinschaftsschulen bleiben auch während der Weimarer Republik insgesamt die Ausnahme, ein Reichsschulgesetz wird nie verabschiedet.

Wie schnell die Durchsetzungsfähigkeit der sozialdemokratischen Parteien in der neu geschaffenen Republik schwindet, wird für Löwenstein unmittelbar spürbar, als seine Wahl zum Oberstadtschulrat von Berlin am Protest der konservativen Interessenverbände und am preußischen Oberpräsidenten der Provinz Berlin-Brandenburg scheitert.

Löwenstein übernimmt in der Folgezeit zahlreiche Ämter und Mandate, die er bis zum Ende der Weimarer Republik innehat: Er ist Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands, Vorstandsmitglied des Sozialistischen Kulturbundes, Mitglied des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit beim Parteivorstand der SPD und Volksbildungsstadtrat in Berlin-Neukölln, wo unter seiner Ägide eine ganze Reihe von Schulreformen durchgeführt wird. Sein größtes Engagement gilt der 1924 gegründeten Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde, deren erster Vorsitzender er ist.

Wie viele andere in der menschenverachtenden Sprache der Nationalsozialisten „rote Juden“ war auch Kurt Löwenstein den Nationalsozialisten besonders verhasst. Am frühen Morgen des 27. Februar 1933 dringen SA-Leute in die Wohnung der Löwensteins ein, verwüsten sie und schießen mehrfach durch die verschlossene Schlafzimmertür. Löwenstein flieht unmittelbar danach über Prag und das internationale Falkenlager in Ostende in Belgien nach Paris. Dort baut er in den folgenden Jahren die Internationale Falken-Bewegung IFM-SEI weiter mit aus und arbeitet bei der Exilvereinigung sozialdemokratischer Lehrer mit. Er muss erleben, wie in den folgenden Jahren erst die österreichische und dann die sudetendeutsche Falkenorganisation zerschlagen werden. Am 8. Mai 1939 stirbt Kurt Löwenstein. „Sein Herz hielt die Enttäuschungen nicht mehr aus“, so sah es sein Sohn Dyno. Am 10. Mai wird seine Asche unter Anteilnahme Tausender auf dem Friedhof Père La Chaise in Paris beigesetzt. Wenige Monate später bricht der Zweite Weltkrieg aus.

Zur Aktualität Kurt Löwensteins

Löwenstein hat keine ausgearbeitete Theorie politischer Bildung formuliert; weder die damaligen Umstände noch der Stand der Fachdiskussion ermöglichten dies. Seine Reflexionen und Ausführungen regen allerdings auch heutige Debatten über politische Jugendbildung an. Im Folgenden soll dies anhand von fünf Themenkomplexen näher ausgeführt werden, um die Relevanz für die heutige Praxis politischer Bildung zu verdeutlichen. Löwensteins Auseinandersetzung mit der Lebenssituation proletarischer Kinder, sein Verständnis von internationaler Solidarität, seine Bildungspolitik in Berlin-Neukölln, seine Vorstellungen zur Demokratisierung der Gesellschaft und sein Begriff der Antizipation weisen auch heute noch über den Zeitkontext der Weimarer Republik hinaus.

Zur Lebenssituation „proletarischer“ Kinder

Ausgangspunkt für Löwensteins pädagogische und bildungspolitische Überlegungen ist die sehr grundlegende Analyse nicht nur der materiellen Lebenssituation, sondern vor allem auch ihrer psychologischen Folgen. Welche Auswirkungen haben die Erfahrungen von Armut und Ausgrenzung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen? Welche Prozesse der primären Sozialisation finden in den Familien der Arbeiterkinder statt? Seine Ergebnisse sind ernüchternd: Arbeiterkinder erfahren nicht nur in allen gesellschaftlichen Bereichen Diskriminierung und Demütigung, sondern auch in den Familien selbst, durch ihre eigenen Eltern. Löwensteins Antwort auf diese Mehrfachbenachteiligung ist nicht der Vorschlag für ein System der Fürsorge, das die Entmündigung nur noch verschärfen würde. Die Pädagogik der Kinderfreunde zielt vielmehr darauf, die Kinder zu befähigen, selbst ihre Interessen zu erkennen, zu artikulieren und gemeinsam zu vertreten sowie gleichzeitig ihre Angelegenheiten selbstbestimmt und in demokratischen Prozessen aushandeln zu können. Eine entscheidende Rolle kommt dabei den nur wenig älteren Gruppenhelferinnen und -helfern zu, die einen für die damalige Zeit gerade für Arbeiterkinder völlig neuen Typus des Pädagogen repräsentieren.

Die heutige politische Jugendbildung kann an Löwensteins Konzept in zwei Punkten anknüpfen: Zum einen nicht die rund 20% Jugendlicher zu vergessen, die sich – wenn auch unter anderen heutigen Rahmenbedingungen –in ähnlich schwierigen Lebenssituationen befinden wie Proletarierkinder in der Weimarer Republik. Zum Zweiten bei ihren Angeboten für diese Zielgruppe die Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Teilnehmenden nicht aus dem Blick zu verlieren, worunter deutlich mehr zu verstehen ist als die Vermittlung bestimmter, nicht von den Teilnehmenden selbst festgelegten Kompetenzen.

Internationale Solidarität

Nach der für die Zeitgenossen prägenden Erfahrung des Ersten Weltkrieges sah Löwenstein eine wesentliche Aufgabe darin, die Tradition des Antimilitarismus der sozialdemokratischen Jugendbewegung fortzuführen, indem er versuchte, durch konkrete Praxis den Begriff der internationalen Solidarität mit Leben zu füllen. Zum einen geschah dies in seit Ende der zwanziger Jahre bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg durchgeführten, internationalen Kinderzeltlagern - meist mit mehreren hundert Teilnehmenden. Neben der internationalen Begegnung sollten die Teilnehmenden gemeinsam ihren Zeltlageralltag gestalten und so ein Gespür dafür bekommen, was Zusammenarbeit über Grenzen hinweg auch im großen Rahmen bedeuten kann. Diese Tradition internationaler Festivals und Camps wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg von den sozialdemokratischen Kinder- und Jugendorganisationen weitergeführt und hat das Konzept der internationalen Seminare der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein geprägt.

Interkulturelles Lernen im Rahmen der Begegnungen und antirassistische Pädagogik sind ein Gestaltungsprinzip. Die Erfahrung von Selbstorganisation und Partizipation, die Durchführung von Veranstaltungen mit bis zu 150 Teilnehmenden aus über 20 Ländern, die Verbundenheit über gemeinsame gesellschaftspolitische Ziele und eine gemeinsame Praxis über die Seminare hinaus sind weitere wichtige Aspekte. Die Behandlung von Themen wie zum Beispiel internationale Konflikte erhält durch die Beteiligung junger Menschen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aus Israel und Palästina, aus dem Kaukasus und aus Zypern ihre besondere Relevanz und ist damit auch aktiver Bestandteil internationaler Friedenspolitik.

Löwenstein war es wichtig, Verständigung und Austausch dauerhaft zu etablieren. Aus diesem Grund hat er den Aufbau internationaler Strukturen, das „International Falcon Movement“ mit großem, persönlichem Einsatz vorangetrieben. Für die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein stellte sich ab Mitte der 90er Jahre eine ähnliche Frage, nämlich wie sie den Aufbaus von Strukturen sozialdemokratisch-sozialistischer Kinder- und Jugendorganisationen in Osteuropa unterstützen kann. Die Beteiligung an internationalen Seminaren sollte für die Organisationen ein Lernfeld bieten, um mit der eigenen Praxis der Kinder- und Jugendarbeit an die Tradition demokratisch-sozialistischer Pädagogik anschließen zu können. Heute verfügt die Bildungsstätte über ein Netzwerk von über 40 Partnerorganisationen in nahezu allen Ländern Europas und Israel /Palästina, die nicht nur aus dem sozialdemokratischen Spektrum kommen, sondern zum Teil auch Selbstorganisationen nicht-heterosexueller junger Menschen in ihren Ländern sind, die sich regelmäßig an dem internationalen LBGT-Seminar „Queer Easter“ beteiligen.

Bildung

Als Dezernent für Volksbildungswesen in Berlin-Neukölln bekommt Löwenstein ab 1921 in der Lokalpolitik die Chance, Teile seiner bildungspolitischen Vorstellungen zu realisieren. Eine seiner ersten Maßnahmen ist die Schaffung von so genannten „Arbeiter-Abiturientenkursen“, 1923 das erste Modell des 2. Bildungswegs, das junge Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 18 – 30 Jahren innerhalb von drei Jahren zur Hochschulreife führen soll.

Ab 1927 baut er gemeinsam mit dem entschiedenen Schulreformer Fritz Karsen das erste deutsche Gesamtschulprojekt auf, das 1930 den Namen „Karl-Marx-Schule“ erhält. Organisatorisch einer Integrierten Gesamtschule ähnlich geht das inhaltliche curriculare Konzept weit über diese hinaus. Es ging um nicht weniger als um die Begründung einer Schule, die sich nicht mehr an den Erfordernissen der bestehenden, sondern an denen einer kommenden – oder wie Löwenstein es ausdrückt „werdenden“ - Gesellschaft orientiert. Ziel ist die Schaffung von Produktionsgemeinschaften von Schülern/Schülerinnen und Lehrern/Lehrerinnen, die gemeinsam die inhaltliche Gestaltung des Lernens planen, umsetzen und kontrollieren. Hier noch von Unterricht zu sprechen, trifft zumindest in Bezug auf Löwensteins Ideal der Schule nicht mehr den Kern der Sache.

Löwensteins Erfahrungen aus dem außerschulischen pädagogischen Bereich, sein spezifisches Politikverständnis und sein Begriff von Bildung führten zu einem Konzept der Schulgemeinschaft, das weit über das hinausgeht, was heute als Reformschule diskutiert wird. Es ging Löwenstein dabei jedoch nicht um eine einzelne Reformschule, sondern um die Gestaltung des Schulwesens im Bezirk Berlin-Neukölln, der damals knapp eine Million Einwohner/-innen hatte. Das heute mit viel Mühe zu implementierende Projekt der kommunalen Bildungslandschaft war in Berlin-Neukölln unter Löwensteins Ägide weit fortgeschritten.

Der Impuls, der aus dem außerschulischen Bereich der Pädagogik in das Reformprojekt Neuköllns einging, ist ein wichtiger Hinweis für die außerschulische politische Bildung als Kooperationspartner von Schule heute. Ihre Aufgabe wäre es demnach vor allem, notwendige Anregungen zur Erweiterung des Verständnisses von Bildung zu geben, um einen Prozess in Gang zu bringen, der nicht nur auf der methodischen und organisatorischen Ebene, sondern vor allem didaktisch die Schule über das hinausführt, was sie heute ist.

Demokratisierung

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass das ehemalige Gruppenkind und der spätere Helfer der Kinderfreunde, Willy Brandt, in seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler das Motto „mehr Demokratie wagen“ in den Mittelpunkt seiner Politik stellte. Mehr Demokratie wagen im pädagogischen Prozess, die Macht der Helfer/-innen immer wieder in Frage zu stellen und nach Chancen der Selbstbestimmung der Kinder zu fragen, war der grundlegende Gedanke der Pädagogik der Kinderfreunde. Die Proletarierkinder sollten von erniedrigten, verachteten Wesen zu selbstbewussten, mündigen Akteuren werden, die ihre eigenen Geschicke solidarisch und frei selbst entscheiden.

Löwensteins Vorstellungen gehen über pädagogische Fragestellungen hinaus. Seine Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen verweist aber noch auf ein relativ mechanistisches Theoriemodell. So fasst er in einem Artikel für das Handbuch der Pädagogik von Nohl/Pallat 1929 prägnant zusammen: „Die starke Integration der Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft muss sich organisatorisch als Demokratisierung auswirken. Wenn die wirtschaftliche Produktion Gemeinschaftscharakter trägt und die einzelnen Menschen in diesem hohen Maße abhängig macht, dann ist die natürliche Folge, dass die Tendenz der Gesellschaft dahin gehen muss, diese Produktion für die Gemeinschaft zu einer Produktion, die durch die Gemeinschaft reguliert wird, zu machen.“ (…) „Wenn aber so Wirtschaft und Gesellschaft Demokratisierung fordern, dann ist es Aufgabe der Erziehung, die heranwachsenden Menschen auf diese Forderung vorzubereiten.“ Der Erwartung, dass aus ökonomischen Entwicklungen gesellschaftliche Veränderungen resultieren, kann heute niemand mehr folgen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind das Ergebnis von zähem Ringen in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, und jede gerade erreichte Position ist immer wieder gefährdet, zurückgedrängt zu werden.

Die Forderung nach Demokratisierung macht deutlich, dass Demokratie für Löwenstein mehr ist als eine Herrschaftsform. Als Lebensform stellt Demokratisierung die Potentiale der Selbstbestimmung und der individuellen Freiheit in den Mittelpunkt eines Handelns, das Gesellschaft grundlegend verändern soll. Die Forderung nach Demokratie - hier und jetzt - verweist auch auf einen anderen Politikbegriff. Politik wird auf die unmittelbaren Lebenszusammenhänge und Interessen der Menschen bezogen. Sie findet zwar auch in den politischen Institutionen statt, genauso wichtig ist aber der unmittelbare Bezug zum Alltagsleben. Damit wird der Befreiungsgehalt reformerischer Politik unmittelbar überprüfbar. Um im Bild zu bleiben: Politik findet nicht mehr im Hinterzimmer, sondern am Küchentisch und an der Werkbank statt.

Für Angebote der politischen Bildung bedeutet dieser Anspruch einerseits, dass die Frage der Partizipation und Interessenvertretung bei allen behandelten politischen Themen elementarer Bestandteil ist. Wie können die Betroffenen ihre eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen? Welche Fähigkeiten und welches Wissen müssen sie sich aneignen, um in Zukunft besser ihre Interessen vertreten zu können? Zugleich ist es auch eine Frage an die Gestaltung der Angebote politischer Bildung: Wie können die Teilnehmenden in dem Prozess der Seminargestaltung – von der Begrüßung bis zur Auswertung - Mitbestimmung und Selbstbestimmung erfahren? Was können wir anbieten, um dies abzusichern – von dem gemeinsamen Aushandlungsprozess über Seminarthemen und Schwerpunkte bis zum Delegationsrat und der selbst organisierten Freizeitgestaltung der Teilnehmenden?

Antizipation

Die Vorstellung, dass der Sozialismus nicht nur eine Zukunftsaufgabe ist, sondern bereits im Hier und Heute gelebt werden muss, kennzeichnet die sozialdemokratische Arbeiterjugendbewegung seit dem Arbeiterjugendtag 1919 in Weimar. Stürmisch wurde dort das von Johannes Schult vorgetragene Bekenntnis begrüßt: „In dem engen Gemeinschaftsleben beider Geschlechter wollen wir den Adel an uns bilden, um mitzubauen an einer sozialistischen Zukunft, bis wir an Stelle Hasses, Neides, Kleinsucht die Liebe der Menschen untereinander in Volks- und Völkergemeinschaften zum Siege geführt haben. Wir wollen die Neuerung des Sozialismus durch Tat und Beispiel aus unsrer Jugendbewegung. “ Die Sprache ist uns heute völlig fremd, nur schwer lässt sich der Inhalt darin finden. Den in dieser Sprache verkleideten Gedanken der Antizipation, der Vorwegnahme von Zukünftigem, hat der Frankfurter Bildungstheoretiker und ehemalige stellvertretende Falken-Vorsitzende Heinz Joachim Heydorn 1973 als den originären Beitrag der sozialistischen Jugendbewegung zur Theorie des Sozialismus bezeichnet.

Für Löwenstein ist Antizipation eng mit der gesellschaftspolitischen Forderung der Demokratisierung verbunden. Die Kinder und Jugendlichen auf die zu erwartende Zukunft vorzubereiten und ihnen die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, ein demokratisch-sozialistisches Gemeinwesen auch gestalten zu können, darin sah er – gerade auch nach der bitteren Erfahrung des Ersten Weltkrieges - eine der wichtigsten Aufgaben der Kinderfreunde. Er ergänzt so gewissermaßen das mechanistische Weltbild der Vorkriegssozialdemokratie um die Komponente des subjektiven Faktors.

Antizipation ist keine Utopie, kein „Nicht-Ort“, sondern sie bezieht ihre Zielperspektive aus der Kritik des Bestehenden, ist „bestimmte Negation“. „Ihr Nein kommt nicht von außen, sondern hat seinen Standpunkt im Verneint“, wie der Berliner Philosoph Wolfgang Fritz Haug formuliert hat. Sie wendet sich folglich nicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ab, ist keine Inselpädagogik, sondern ist „vor“gelebte Negation der bestehenden Verhältnisse und weist somit zugleich über diese hinaus.

Antizipation, die Erfahrung, dass menschliches Zusammenleben auch anders gestaltet werden kann, ist eine ganz wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und der Fähigkeit, sich nicht von den bestehenden Verhältnisses überwältigen zu lassen, sondern zu seinen Erkenntnissen und Überzeugungen zu stehen. Antizipation verbindet das Moment der Kritik und der Analyse mit der individuell persönlichen Erfahrung, und gerade dies macht die damit verbundenen Lernprozesse so intensiv und nachhaltig. Was damit gemeint ist, illustriert ein Zitat aus einer Broschüre des Neuköllner Kulturvereins zum Widerstand in Neukölln:

„Dass in Neukölln eine breite Kreise erfassende, zähe Widerstandsarbeit geleistet wurde, hat sicher damit zu tun, dass die Bewohner dieses Bezirks in den Jahren der Weimarer Republik erfahren und erlebt hatten, wie Kommunalpolitik menschenwürdig gestaltet werden kann. In einem Reisebuch der frühen dreißiger Jahre heißt es, Neukölln habe ‚in der Anwendung sozialistischer Theorien in der Praxis des Lebens die führende Rolle in Groß-Berlin inne.‘ Gemeint sind damit z. B. die Arbeit des Volksbildungsstadtrates Löwenstein, die gesundheitspolitischen Initiativen des Stadtarztes Dr. Schmincke, die Modelle wahrhaft sozialen Wohnungsbaus wie in der Britzer Hufeisensiedlung. Diese sozialen Errungenschaften zu vernichten oder zumindest in ihrem Sinne umzufunktionieren, war eines der ersten Ziele der Nazis in Neukölln. Ihre inhumane, menschenverachtende Haltung erwies sich ganz konkret in ihrer Bezirkspolitik.

Widerstand dagegen wurde vor allem von denjenigen geleistet, die die kommunalpolitische Arbeit während der Weimarer Zeit getragen hatten, und von denen, die von dieser Zeit geprägt worden waren, wie die Schüler der Rütli- und Karl-Marx-Schule - Modellschulen, deren oberstes Erziehungsziel der selbstverantwortlich handelnde Mensch war."

Der Anspruch der Antizipation ist - bezogen auf den pädagogischen Prozess -, dass alle Pädagogik, auch die politische Bildung, sich nicht nur an der Gegenwart messen muss, sondern an dem, was sein könnte. Angebote der politischen Bildung sollen so gestaltet werden, dass auch andere Formen des Zusammenlebens erfahrbar werden und sich der Horizont der Teilnehmenden erweitern kann. Bezogen auf die gesellschaftspolitischen Prozesse insistiert Antizipation darauf, dass das Bestehende nicht das Ende der Geschichte ist. Antizipation ist eine Einladung zu einem „Mehr“ an Selbstbestimmung und Autonomie.

Schlussbemerkung

Kurt Löwenstein geriet nach 1945 als Vordenker eines Demokratischen Sozialismus weitgehend in Vergessenheit. Insbesondere bei der Rezeption der sozialistischen Erziehungsklassiker in den siebziger und achtziger Jahren war er den meisten nicht revolutionär genug, weil sich seine Sprache den Parolen, den zitierfähigen Schlagworten und dem verbalen Radikalismus entzieht.

Aber alle, die gerade deshalb hofften, ihn als braven Sozialreformer einordnen zu können, mussten bei genauerem Hinsehen feststellen, dass er genau dies nicht war. Seine Schriften bleiben schwer verständlich, da sie in Bildhaftigkeit der Sprache und Argumentation stark der Zeit verhaftet sind, sich häufig auf aktuelle Anlässe der Weimarer Republik beziehen und ganz sicher keine geschlossene Theorie politischer Bildung darstellen, aus der sich unmittelbar Praxisanleitungen für die Lösung heutiger Fragen ableiten ließen.

Gleichwohl bleibt die Auseinandersetzung mit ihm spannend, da er sich mit gutem Gespür für Perspektiven dem Verhältnis zwischen Pädagogik und Politik gewidmet und versucht hat, Antworten zu finden, an die angeschlossen werden kann.

Literatur

Kurt Löwenstein: Sozialismus und Erziehung, Schriften 1919 – 1933, Berlin/Bonn/Wien 1976

Kurt Löwenstein: Wie das Leben lernen…, Kurt Löwensteins Entwurf einer sozialistischen Erziehung, Beiträge und Dokumente, Berlin 1985, Antiquarisch über die JBS zu erhalten

Kurt Löwenstein: Die Kinderfreundebewegung, in: Hermann Nohl/Ludwig Pallat (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik, Bd. 5 Sozialpädagogik, Langensalza 1929

Deutschland Radio Wissen: Große Pädagogen: Kurt Löwenstein, 2010