„Geschundene Seelen“ - Lesung und Diskussion zur Heimerziehung in der DDR
Am 01.12.2013 fand eine Lesung und Diskussion mit dem Zeitzeugen und Autor Hans-Joachim Schmidt in unserem Haus statt. Im Anschluss wurde kontrovers diskutiert.
Die Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR steckt noch immer in den Kinderschuhen. Das gilt auch für das Haus in Werftpfuhl, in dem heute die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein arbeitet, und das ab Ende der 50er Jahre „Sonderheim“ war.
Die Veröffentlichung des autobiographischen Berichts „Geschundene Seelen – Schwarze Pädagogik“ von Hans-Joachim Schmidt, der Mitte der 1960er Jahre Heimkind in Werftpfuhl war, hatte die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein zum Anlass genommen, zu einer Lesung einzuladen. Um die vierzig Personen waren der Einladung gefolgt und fanden sich am Nachmittag des 1. Advents im Saal des Hauses ein. Interessierte Bürger aus Werneuchen, Betroffene, die selbst als Kinder oder Jugendliche in einem Heim in der DDR untergebracht waren und ehemalige Mitarbeiter des Heims in Werftpfuhl und anderer DDR-Jugendeinrichtungen waren gekommen.
Bevor sich aus dieser Konstallation ein gespannter Austausch entwickelte, begann die Lesung mit einer Begrüßung durch den Geschäftsführer der Bildungsstätte, Thomas Gill.
Stand der Aufarbeitung
Gills einführenden Worten folgte ein Vortrag von Silvana Hilliger vom Büro der Brandenburger Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD). Sie berichtet über bisherige Kenntnisse und den Stand der Aufarbeitung.
Erst im letzten Jahr wurde der „Fonds Heimerziehung in der DDR“ eingerichtet, der Beratung und Hilfe für Betroffene ermöglicht und die Aufarbeitung vorantreiben soll. In der Anlaufstelle des Landes Brandenburg haben sich Hilliger zufolge bislang ca. 1400 Personen gemeldet, mit denen persönliche Gespräche geführt wurden und denen Einsicht in ihre Akten angeboten wurde. Insgesamt sei davon auszugehen, dass es ca. 500.000 Heimkinder in der DDR gegeben habe, davon waren etwa 120.000 in Spezialheimen untergebracht, 20.000 in Brandenburg. Die wissenschaftliche Aufarbeitung sei bisher in drei Expertisen und einem Bericht der Bundesregierung nachzulesen, eine Publikation zum Kombinat der Spezialheime sei geplant.
Frau Hilliger berichtete, dass in den DDR-Spezialheimen diejenigen Kinder und Jugendlichen untergebracht waren, die „abweichendes Verhalten“ gezeigt hätten. Diese seien entweder als „schwer erziehbar“ definiert und ihr Verhalten durch ihr familiäres Umfeld erklärt worden, oder als „verhaltensauffällig“: War dies der Fall, galten sie als psychisch und physisch geschädigt, so dass die Tür offen stand für die Gabe von Psychopharmaka und Maßnahmen wie die Unterbringung in Arresträumen. Es sei nicht das Ziel gewesen, das emotionale Gleichgewicht in den jungen Seelen wieder herzustellen, sondern auffälliges Verhalten zu minimieren. Deshalb habe man sich autoritärer Methoden bedient und zu viel emotionale Zuwendung sogar teilweise als schädlich angesehen. Als Beleg ihrer Ausführungen zitierte Frau Hilliger aus Briefen, die sich im Original in den Akten gefunden haben.
Lesung
Die Schauspielerin Leonie Schulz las im Anschluss Passagen aus dem Buch von Hans-Joachim Schmidt. Ausdrucksvoll trug sie die persönlichen Erinnerungen des Zeitzeugen vor: wie er gedemütigt und geschlagen wurde, wie ihm regelmäßige Speisen vorenthalten wurden und er nur einmal in der Woche duschen durfte, wie er mit seinem besten Freund als Strafe fürs Weglaufen für mehrere Tage in die dunkle Arrestzelle eingesperrt wurde und die sich verschärfende Erkrankung seines Freundes von Lehrern und Erziehern ignoriert wurde, bis dieser letztlich daran verstarb. Nicht wenige Personen im Publikum hatten am Ende der Lesung Tränen in den Augen. Es gab auch vereinzelt ungläubiges Kopfschütteln.
Kontroverse Diskussion
Im Anschluss stellte sich Hans-Joachim Schmidt als Autor und Zeitzeuge den Fragen des Publikums. Ein ehemaliger Erzieher aus den 70er-Jahren meldete sich zu Wort und sagte, Grausamkeiten, wie die von Schmidt geschilderten, habe es zu seiner Zeit nicht gegeben. Eine Erzieherin, die in den 50er-Jahren in Werftpfuhl gearbeitet hatte, beschwerte sich, hier werde eine gesamte Generation schlecht gemacht.
Thomas Gill bemühte sich als Moderator um Ausgleich: Jeder Einzelne habe persönliche Erinnerungen, die man nicht gegeneinander diskutieren könne. Auch Sylvana Hilliger betonte, man müsse Zeitzeugen-Berichte als solche stehen lassen. Sie bestätigte, was zuvor im Buch und den Ausführungen Schmidts deutlich geworden war: In vielen DDR-Heimen der damaligen Zeit war das Personal hoffnungslos überfordert, da die meisten Erzieher für ihre Aufgabe nicht ausreichend ausgebildet waren und es insgesamt zu wenig pädagogisches Personal gegeben habe. So gesehen seien auch die Pädagogen Opfer des Systems gewesen.
Zugleich aber verwies Hilliger auf die Machtverhältnisse: Hinter den Erziehern habe der Staat gestanden, andererseits hatten die Kinder niemand, an den sie sich wenden konnten und waren der Situation ausgeliefert. Dass sich auch heute noch ähnliche Situationen in Jugendheimen ergeben können, wurde mit Blick auf die aktuelle Diskussion um die „Haasenburg“-Heime mehrfach angemerkt.
Betroffen von Schmidts Bericht zeigte sich eine anwesende Zeitzeugin, die mit Mitarbeitern in Werftpfuhl befreundet nur oberflächlichen Eindruck gewonnen hatte, aber schon damals mitbekommen hätte, „dass hier vieles nicht stimmte, aber darüber wurde nichts erzählt“. Sie empörte sich: „Man muss doch auch mal zugeben, wie es war!“
Den Mantel des Schweigens zu heben, forderten dann auch andere Betroffene, die auch aus den achtziger Jahren von Arrestzellen mit Holzpritschen in anderen Heimen zu berichten wussten. „Wir wollen Aufklärung und Anerkennung, dass es Unrecht war, was man uns angetan hat“, forderte eine von ihnen, und ergänzte: „Und dazu ist es wichtig, beide Seiten zu hören.“ Es folgte ein Applaus von allen Seiten des Auditoriums.
Zusammenschau
Es ist dies das wichtigste Fazit, das aus dieser emotional aufwühlenden Begegnung zu ziehen ist: Die Aufarbeitung muss weitergehen, nun da sie endlich begonnen hat. „Und sie darf zeitlich nicht 1990 stehen bleiben, sonst sitzen wir in 20 Jahren wieder so da“, wie eine Teilnehmerin der Veranstaltung treffend formulierte. Auch wenn es schwierig ist, gibt es auf beiden Seiten, unter den damaligen Heimkindern wie unter damaligen Mitarbeitern, Menschen, die bereit sind, daran mitzuwirken. Ein Gesamtbild kann nur entstehen, wenn beide Perspektiven erzählt werden können – und sich dieses dann einordnet in einen wissenschaftlich belegten Kontext. Auch dabei ist noch viel zu tun, stehen doch nicht mal die Daten eindeutig fest, von wann bis wann welche Einrichtung in welchem Haus gearbeitet hat.
Die Veranstaltung in der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein war ein Anfang: Erstmals standen sich nach so vielen Jahren Menschen gegenüber, die einander zumindest angehört haben. Dadurch fällt endlich etwas Licht in die bisher weitgehend im Dunklen gehaltenen Jahre und ermöglicht Einordnung, Aufarbeitung und Empathie. Vielleicht sogar: Dialog.
Bericht von Bernard P. Bielmann
Der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg ist zu danken, dass ihre Förderung die Veranstaltung möglich gemacht hat.
Das Buch "Geschundene Seelen - Schwarze Pädagogik" von Hans-Joachim Schmidt ist im Jahr 2013 im bar-Verlag erscheinen. ISBN-Nummer 978-3-944515-14-4